Hätten etwa die Belgier in einer vergleichbaren Situation auch den pro-europäischen Kräften am Ende den Vorzug gegeben? Hier sind mehr und mehr Zweifel erlaubt. Die Unterstützung für das Projekt "Europa" bröckelt.
Zwar hat sich die EU ihren Legitimitätsverlust in Teilen selbst zuzuschreiben. Doch ist er zugleich Ausdruck einer beängstigenden gesellschaftlichen Entwicklung: "Zurück in die Zukunft", so scheint für viele inzwischen die Parole zu lauten.
Man will sich manchmal die Augen reiben, sich kneifen, um sicher zu sein, dass man nicht träumt. Unfassbar, wie schnell sich die Geister der Vergangenheit zurückmelden können, besser gesagt: "die Dämonen".
Alleine geht's besser?
Dass die EU einmal in ihrer Existenz bedroht sein könnte, wer hätte das noch vor wenigen Monaten überhaupt für möglich gehalten? Doch es ist so, da gibt's kein Schönreden. Wir erleben Schicksalstage, räumte auch der langjährige EU-Parlamentarier Mathieu Grosch unlängst ein. Immer häufiger versuchen die EU-Staaten, den Eindruck zu vermitteln, dass sie alleine die Probleme besser lösen können als das auf europäischer Ebene möglich wäre.
Jüngstes Beispiel: das Schengen-Abkommen, neben dem Euro wohl eine der sichtbarsten Errungenschaften des Europäischen Integrationsprozesses. Schengen steht für offene Grenzen, offene Schlagbäume. Jetzt aber haben sich die EU-Staaten im Alleingang das Recht gegeben, Schengen auszuhebeln, ihre Grenzen gegebenenfalls wieder selbst zu schützen. Populismus pur! Wenn nämlich die Staaten das tun, wenn sie Schengen zu ihren Gunsten lockern wollen, dann, weil sie den Eindruck haben, ihren Bürgern damit zu gefallen.
Geschlossene Grenzen mögen vielleicht ein trügerisches Gefühl der Sicherheit vermitteln, als könnte man alle Probleme der Welt durch einen bloßen Zaun von sich fernhalten. Die Mitgliedstaaten seien schließlich für die Sicherheit ihrer Bürger verantwortlich, da sei die Möglichkeit, die eigenen Grenzen zu schützen, ja wohl "völlig normal", wie der deutsche Innenminister Friedrich sinngemäß erklärte. Wenn "völlig normal" in der Praxis gleichbedeutend ist mit "Zurück in die Zukunft", mit dem Credo: "Alleine sind wir stark", na dann "Gute Nacht!".
Die Zukunft liegt anderswo
Es gibt vielleicht tausend gute Gründe, die EU zu kritisieren, in einem Punkt darf aber kein Zweifel bestehen: jedes Land - selbst die großen - stünde für sich genommen international ziemlich alleine da. Die gesamte EU mit ihren 27 Mitgliedsstaaten stellt gerade einmal ein Zehntel der Weltbevölkerung. Tendenz fallend, denn: Europa ist ein alternder Kontinent. Die Zukunft liegt anderswo: in den USA und vor allem in Asien.
Wer glaubt denn allen Ernstes, dass ein einzelnes Land hier mehr Chancen hätte? Es ist keine Sonntagspredigt, es ist keine nette Vision einiger spinnerter, weltfremder Träumer oder, noch schlimmer, irgendwelcher selbstherrlicher Bürokraten, wenn man sagt: Europa ist nicht das Problem, es ist die Lösung. Eine Lösung, die zugegebenermaßen noch nicht ausgereift ist.
Das hat aber seine Gründe. Man darf nämlich nicht vergessen: Bei der EU war immer schon der Bock der Gärtner. Es sind eben jene Staaten, die ständig gegen Brüssel wettern, die dabei aber vergessen - besser gesagt: unterschlagen- , dass sie es sind, die Europa gestalten. Banales Beispiel: es waren die EU-Staaten, die sich bei einem Gipfel auf die Abschaffung der klassischen Glühbirne geeinigt haben. Doch was ist passiert? Als die Glühbirnen tatsächlich aus den Regalen zu verschwinden begannen, war aus dieser Maßnahme urplötzlich eine Kopfgeburt irgendwelcher EU-Regulierungsfanatiker geworden.
Dass die Eurozone entscheidende Webfehler aufweist, das ist auch nicht die Schuld der EU. Es waren vielmehr die EU-Staaten, die sich geweigert haben, allzu viele Zuständigkeiten zusammenzulegen, an Europa zu übertragen. Wenn die EU so perfekt unperfekt ist, dann ist das allein den EU-Staaten zuzuschreiben. Und da ist es schon unverschämt, wenn die Länder jetzt genau diese Unzulänglichkeiten der EU zum Argument machen, um wieder nationale Egotrips zu fahren.
National + sozialistisch
"National" denkt letztlich auch Deutschland, das mit seinen Trippelschritten bislang verhindert hat, dass man Nägel mit Köpfen macht. National denkt auch Griechenland, das wohl immer meint, das Nicht-Zahlen von Steuern sei eine nationale Tugend.
Die Tragödie um Griechenland, das ist aber nur der sichtbare Teil, das Sinnbild einer Existenzkrise, die längst Europa in seiner Gesamtheit erfasst hat.
"Europa", "Brüssel", das steht für alles Übel dieser Welt: bombig bezahlte Bonzen, die aus ihrem Elfenbeinturm an den Bürgern vorbei regieren, allenfalls die Interessen des Großkapitals bedienen. Mehr noch: bei denen es zum Selbstzweck geworden ist, die Menschen zu schikanieren. Und wenn sie eine Lanze für Europa brechen, dann nur aus Gründen des bloßen Machterhalts. Das Establishment schützt seine Pfründe.
Europa hat ohne Zweifel ein Legitimitätsproblem. Pars pro toto: mitunter berechtigte Kritik an Einzelpunkten führt zu einer Infragestellung der gesamten Europäischen Idee. Das ist tragisch und führt in letzter Konsequenz ins Verderben. Schon einmal hat man geglaubt, die "nationale" Lösung wäre die einzig richtige. Schon einmal haben Leute dem Wähler vorgegaukelt, die einzig "sozialistische" Partei zu sein, in dem Sinne, dass man den "kleinen Mann" wieder in den Vordergrund stellt und in Zeiten abschmierender Bankensysteme vor der daraus folgenden Wirtschaftskrise schützt. Wirft man beide Konzepte zusammen, dann bekommt man das Wort "National - Sozialistisch".
Am Scheideweg?
Die Dämonen sind wieder da. Rechtsradikale wittern zunehmend Morgenluft, der FN mischt mit nationalen und anti-europäischen Parolen den französischen Wahlkampf auf, die griechischen Neonazis verbessern noch ihr Wahlergebnis, trotz eines Abgeordneten in ihren Reihen, der noch vor einigen Tagen in schlimmster SA-Manier auf eine kommunistische Kollegin eingedroschen hat.
Nur zur Erinnerung: die EU ist nicht umsonst aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges geboren, eben, um eine neue Jahrhundertkatastrophe zu verhindern. Es liegt jetzt allein an den EU-Staaten, dem "Projekt Europa" neues Leben einzuhauchen. "Historisch", das Wort wird ebenso inflationär gebraucht wie "Scheideweg" oder "Existenzkrise". Dennoch: Ende des Monats beim EU-Gipfel haben die EU-Staaten wohl die historische Aufgabe, ein für allemal Europa aus der Schulden- und damit aus der Sinnkrise heraus zu führen. Dazu bedarf es Kragenweite, denn die einzige Lösung lautet "mehr Europa": Entweder, wir legen unsere Schicksale zusammen, oder wir gehen zusammen unter.
Bild: Andreas Solaro (afp)
Ein sehr sehr schwacher Kommentar.
Pint schreibt: Dass die Eurozone entscheidende Webfehler aufweist, das ist auch nicht die Schuld der EU. Es waren vielmehr die EU-Staaten, die sich geweigert haben, allzu viele Zuständigkeiten zusammenzulegen, an Europa zu übertragen.
Das Problem ist doch gerade der Moloch EU, der eigentliche Webfehler heißt Euro. Und die Eurokraten, die grandios versagt haben und die Probleme mitverursacht haben, sollen nun die sein, die die Lösungen bieten? Einfach lächerlich. Europa braucht den Euro nicht. Die EU hat ihren Zenit überschritten.