Es ist ein coup de génie: Joe Jackson, seit 45 Jahren in eigensinniger Mission auf Streifzug durch nahezu alle existierenden Musik-Genres, immer mit der unverkennbaren musikalischen Handschrift seines expulsierend britischen Gesangs und seines Faibles für verschwenderisch reichhaltige Arrangements, überrascht mit einer Wundertüte, die so unerwartet wie anlasslos in die Ödnis einer an Möglichkeiten übersättigten Musikwelt platzt. Der scheue Künstler aus Portsmouth, der seit 14 Jahren abwechselnd in Berlin, London und New York lebt, will Lieder eines Sängers zusammengetragen haben, die an die hundert Jahre verschollen und vergessen waren. Sie sollen von einem Star der Londonder Music-Hall-Szene stammen: "Max Champion", 1882 im Londoner East End geboren und vermutlich ein Verwandter des Music-Hall-Komponisten, -Sängers und -Komikers Harry Champion. Nach seinem Tod an der Westfront im Ersten Weltkrieg gerieten seine Lieder "in Vergessenheit", aber einige seiner Noten tauchten ab 2014 wieder auf, und 2019 gab es genug Lieder für Jackson, um sie durch die Aufnahme des Albums "wiederauferstehen" zu lassen. Die vielen Anführungszeichen deuten es an: Die Geschichte ist nach erstem Stand fiktiv. Nur Harry Champion hat es wirklich gegeben, und natürlich die Geschichte der Music Halls. Die bekommt durch Joe Jacksons neues Album „What A Racket!“ (sein 21.!) die vermutlich größte Aufmerksamkeit seit ihres Niedergangs nach dem Ersten Weltkrieg.
Music Halls entwickelten sich nach dem viktorianischen Zeitalter in Großbritannien. Zunächst Jahrmarktattraktion, zogen sie nach und nach in Tavernen und Trinkhallen ein. Die lustvollen, frivolen Musikaufführungen wurden zur Hauptattraktion, aus Trinkhallen wurden Musikhallen – sie prägten das Genre der sich dort entwickelnden Musik, die „Music Hall“ (das Pendant aus den USA, „Vaudeville“, ist bekannter, auch weil schon französische Trink- und Spottlieder, die ab dem 15. Jahrhundert aufkamen, so bezeichnet wurden).
Die Geschichte der englischen Music Halls ist so aufregend wie verblüffend. Zu ihren Hochzeiten gab es allein in London 378 von ihnen, 78 davon waren sehr groß, boten Platz für bis zu 5000 Gäste. Das galt schon für die erste, die Canterbury Music Hall, 1852 das größte Konzertgebäude der Welt (sie wurde 90 Jahre später durch deutsche Luftangriffe zerstört). Music Halls waren der Vorläufer für das, was wir heute als Varieté, Kabarett und auch Zirkus kennen, ein Ort der Verlustierung und Bewältigung von Alltagssorgen, die sich von Traditionen abwandte und der Moderne zugewandt war. Deutlich war der Bruch von der Folk Music, von der sie möglichst nichts übernehmen wollte, nicht musikalisch und nicht thematisch.
Joe Jackson hat mit seiner zeitgenössichen Wiederbelebung jenes vergessenen Musikstils ein kleines Meisterwerk geschaffen. Er adelt die Music Hall mit seiner Brillanz als Arrangeur und setzt ihr ein Denkmal, wobei sein bekannt ausdrucksstarker Gesang ihn zum idealen Protagonisten eines Music-Hall-Sängers macht. Imposant spielt dazu ein 12-köpfiges Orchester auf, das er eigens für „What A Racket!“ aufgestellt hat. Die 11 Titel, die Joe Jackson hier versammelt, vermitteln eine Ahnung davon, dass ohne Music Hall die gesamte britische Kultur als führende Popnation eine andere sein könnte. Dessen ist sich übrigens auch The British Music Hall Society bewusst: Seit sechzig Jahren bewahrt und pflegt sie das Erbe der Music Halls.
Außerdem in dieser Sendung:
- Las Lloronas: „Out of the Blue“ – polyglotte Vokalkunst aus Belgien
- Die Quittung: „Einfrieren“ – Abgesang auf die optimierungsgeile Gesellschaft
- IIbadet Ramadani: Super Solo nach Super700
- Michael Lane: „Memories“
(Overture): Why, Why, Why?
(M.Champion)
Joe Jackson
earMUSIC
Monty Mundy (Is Maltese)!
(M.Champion)
Joe Jackson
earMUSIC
The Shades of Night
(M.Champion)
Joe Jackson
earMUSIC
Rain & Sun
(A.in‘tVeld / M.Werner / S.Solomon)
Las Lloronas
Muziekpublique
Radikale Ruhe
(A.in‘tVeld / M.Werner / S.Solomon)
Las Lloronas
Muziekpublique
Au Revoir
(A.in‘tVeld / M.Werner / S.Solomon)
Las Lloronas
Muziekpublique
Eintauchen
(J.Döpping)
Die Quittung
Staatsakt
Gelacht
(J.Döpping)
Die Quittung
Staatsakt
Sleep My Child
(I.Ramadani)
Ibadet Ramadani
Jeta Records
Forest
(I.Ramadani)
Ibadet Ramadani
Jeta Records
Walking A Long Road
(M.T.Lane)
Michael Lane
Greywood Records
Epic Wonder
(K.GrarupElbo / L.M.Vogel /Marie-C.Schlameus / P.J.Thimm)
Toechter
Morr Music
Tower of Song
(L.Cohen)
Leonard Cohen
CBS
Markus Will