Beth Gibbons zuzuhören hat schon immer schön wehgetan. Ihre helle, hauchende Stimme, die sich scheu um Emotionen und Gedanken windet, leicht bricht und sich zu einem unregelmäßigen Mosaik fügt - sie fasziniert und macht auch ein wenig Angst. Seit "Out of Season", ihrem zeitlupenhaften Duett-Album mit dem Talk-Talk-Bassisten Paul Webb alias Rustin Man aus dem Jahr 2002, ist die Sängerin aus Exeter ein Faszinosum über alle musikalischen Szenen hinweg, auch weil sie öffentliche Auftritte meidet, keine Interviews gibt und nur etwa alle zehn Jahre neue Musik präsentiert.
"Lives Outgrown" ist kein Album, das einfach geschrieben, komponiert, gespielt, aufgenommen und bearbeitet wurde. Es ist das Ergebnis einer zehnjährigen Suche, die einer Selbstquälerei gleichkam. Beth Gibbons musste bei allem, was sie klanglich ausprobierte, herausfinden, ob sie es länger als zwei Wochen ertragen konnte. Denn hier sind abgesehen von einer Gitarre kaum normale Instrumente am Werk: Vor allem die Arbeit am "Schlagzeug" war bei aller Zurückhaltung eine Herausforderung, denn sie und ihr anfänglicher Studiopartner, Talk-Talk-Schlagzeuger Lee Harris, spielten mit allem, was gerade herumlag, nur nicht mit einem echten Schlagzeug: Zuerst mit einer Holzschublade, dann kamen Tupperware-Dosen, die wurden dann mit Erbsen gefüllt … Das Schlagzeug bestand am Ende aus einer Paella-Schüssel, einem Blech, Teilen des Mischpults und einer Wasserflasche aus Kuhfell, die Kick-Drum war eine Kiste voller Gardinen. Auch als später James Ford, der Produzent der Arctic Monkeys, die Produzentenrolle übernommen hat, ging das wilde Instrumente-(Er)-Finden weiter. Für den Song "Tell Me Who You Are Today" ist er ins Innere eines Klaviers gekrochen, um von dort die Saiten mit Löffeln anzuschlagen.
Die Genese von "Lives Outgrown" klingt nach heiterem Kreativ-Spielplatz - die Themen, um die das Album kreist, sind jedoch düster. Es handelt von allerlei endgültigen Abschieden. Von der Familie, von Freunden und von Beth Gibbons früherem Ich. Zehn Lieder in zehn Jahren, in denen das Leben ihr immer mehr aus Hand geglitten ist, an deren Ende der Blick nach vorne nicht mehr so viel hergibt wie einst und der Blick zurück schärfer wird. "Ich habe erkannt, wie das Leben ohne Hoffnung ist", sagt Beth, "und das war eine Traurigkeit, die ich noch nie gespürt hatte." Beth Gibbons war noch nie eine Musikerin der fröhlichen Klänge. Mit"Lives Outgrown" ringt sie der Traurigkeit den erhabensten Trost ab, der von ihr bislang zu hören war.
"Lives Outgrown" von Beth Gibbons ist am 17. Mai bei Domino Recording erschienen.
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Markus Will