Auch wenn es manche – meist Konservative oder Rechtsgesinnte – in Debatten und Diskursen oft anders darstellen: Niemand ändert mal eben sein Geschlecht, nur weil es sich cool oder sexy anfühlt oder er/sie mal was anderes ausprobieren möchte. Wirklich niemand. Bevor Menschen mit innerer Überzeugung und gefasstem Mut öffentlich sagen: Ich bin nonbinär, abinär, genderfluid, trans oder oder oder, durchstehen sie viele Zweifel, Ängste und unablässige Selbstvergewisserungen. Oft vergehen Jahre, fließen viele Tränen und nagt etliche Verzweiflung an ihnen.
Über diese lange Phase vor der Transition, der öffentlichen, zunehmend auch urkundlich eingetragenen Geschlechtsänderung hat die Kalifornierin mit früherem Namen Sarah Walk, heute Breymer, ein ganzes Album geschrieben. In elf Songs fächert sie den ganzen Weg auf, von der ersten Beklemmung, sich selbst unter engsten Freunden nicht wie man selbst zu fühlen, bis zum Moment der Narkose auf dem OP-Tisch vor einer geschlechtsangleichenden Operation (Hinweis: Nicht jede Person, die ihr Geschlecht ändert, entscheidet sich auch für körperliche Veränderungen). Für Breymer stand irgendwann fest: "Frau" bin ich nicht, als "Mann" fühle ich mich auch nicht, sondern irgendwo dazwischen oder auch außerhalb davon. Und: Die Brüste müssen weg! Bis Breymer diesen Eingriff als unausweichlich empfand, hat dey unzählige emotionale und gedankliche Achterbahnfahrten durchgemacht. Davon erzählt sie uns auf ihrem neuen Album in aller Offen- und Direktheit. "When I Get Through" ist ein musikalisch-lyrisches Tagebuch innerer und äußerer Verwerfungen vor einer Mastektomie. In elf zarten, beflügelnden, ungenierten Songs wird es zu einem Vademecum für alle, die noch auf der Suche nach ihrem wahren Selbst sind.
Breymer stammt aus Minnesota, USA, und veröffentlicht das dritte Album. Es legt Breymers Verhältnis zu Gender und Identität offen und dokumentiert den Weg zur Mastektomie. Eine breite Instrumentenpalette, vielschichtige Gesangsharmonien und rohe Lyrik hüllen introspektive Fragen ein wie "Bin ich jetzt besser?", "Bin ich auf dem falschen Weg?", "Wer bin ich?".
Das Album beginnt mit "The Truth", das von Reibungen und Festigungen in Freundschaften handelt handelt. In "Wrong Path" stellt dey die Frage: "Am I on the wrong path?" Das Klanggerüst erinnert an eine tickende Uhr – dey musste handeln, um etwas gegen die eigene Unsicherheit zu tun. "'Wrong Path' ist eigentlich ein Song über Unsicherheit, die sich als Selbstzweifel maskiert. Es gibt auch dieses unterschwellige Element der Frustration mit mir selbst wegen meines Mangels an Mut." Breymers Stimme ist klar und kraftvoll und weist den Weg, wie es nach der Wahrheit weitergehen kann. "Better Friend" bezieht sich auf den Entschluss, sich trotz eigener mentaler Instabilität mehr um Freund:innen zu kümmern. Im Album-Highlight "Darkness" (… leads the light) wird ein hoffnungsvoller Wendepunkt erreicht. Trotzdem bleibt der Schmerz spürbar, etwa in "The Feeling (When I See You)", einem Geständnis über Neid und das Sehnen nach äußeren Merkmalen, die Breymer für sich begehrt. Die Klavierballade "Who Am I?" und "The Night Before" behandeln Gespräche kurz vor der Operation. "'Who Am I?' ist der verletzlichste Song des Albums, der einen Moment der Angst widerspiegelt, nicht das zu sein, was der Partner vielleicht will. In "The Night Before" versichert Breymer sich und der Mutter, dass die Mastektomie der richtige Schritt ist: "Das war das erste Mal, dass ich jemandem versichern konnte, dass es die richtige Entscheidung war und dass es mir gut gehen würde." Schließlich nimmt "Anesthesia" die letzten Atemzüge vor der Operation auf und endet hoffnungsvoll: "Ich wollte, dass sich dieser zweite Teil anfühlt, als würde man hochgehoben und weggetragen werden."
Breymer wuchs in Minnesota auf und verbringt die meiste Zeit zwischen Los Angeles und London, wo sie ihr Debüt "Little Black Book" (2017) mit Produzent Steve Brown (Laura Mvula) aufnahm. Den Nachfolger "Another Me" (2020) produzierte Leo Abrahams (Regina Spektor, Belle and Sebastian, Paul Simon, Pulp, David Byrne, Brian Eno). Breymer hat das Berklee College of Music absolviert.
"When I Get Through" von Breymer ist am 18. Oktober 2024 auf One Little Independent erschienen.
Markus Will
