Jeffrey Lewis ist seit jeher auf der Flucht vor Selbstgefälligkeit und Konventionen. Sein neuestes Album vollzieht einen weiteren Sprint aus der Komfortzone und entwickelt sich zu einer hyper-literarischen, satirischen und zutiefst persönlichen Reise durch die Ängste der modernen Existenz. Mit einer Anspielung auf "The Freewheelin’ Bob Dylan" - sowohl im Titel als auch in der frechen, nackten Cover-Hommage - markiert dieses Album Lewis’ erste Studioaufnahmen seit 2019 und fängt die frenetische Energie seiner Lo-Fi-Anti-Folk-Wurzeln ein, während er gleichzeitig seine charakteristische Erzählweise verfeinert.
Das Album ist eine Meisterklasse in scharfem, beobachtendem Songwriting, vollgepackt mit existenziellem Humor und bissigen sozialen Kommentaren. Der Song "Do What Comes Natural" thematisiert die Absurdität der Selbstfürsorgekultur, während "Relaxation" die Angst in ein rasendes, gitarrengetriebenes Mantra verwandelt. "Sometimes Life Hits You" bietet eine kathartische Befreiung im Stil von Velvet Underground, und in "100 Good Things" listet Lewis die kleinen Siege des Lebens in einer intimen Lo-Fi-Live-Aufnahme auf. Vereinzelt geht er über die persönliche Reflexion hinaus: "DCB & ARS" ist eine Hommage an den verstorbenen Silver-Jews-Frontmann David Berman, der sich mit der Schriftstellerin Amy Rose Spiegel eine surreale Verbrecherjagd ausmalt.
Musikalisch ist "The EVEN MORE Freewheelin’" eine Rückbesinnung auf das Wesentliche, eine rohe und doch ausgefeilte Folkerfahrung. Akustikbetont und mit schnellem Fingerpicking erinnert es an seine frühesten Arbeiten, zeigt aber auch eine Entwicklung in der Produktion, mit subtilen Schnörkeln wie Geige, die neue Tiefe hinzufügen. Das Album lebt von seinen Widersprüchen: Es ist zugleich verspielt und melancholisch, ungefiltert und doch raffiniert, zutiefst persönlich und doch universell verständlich.
Vor allem aber ist es ein Zeichen dafür, dass Lewis sich auch über zwanzig Jahre nach seinem Debüt den Erwartungen widersetzt. Er bleibt so produktiv, rastlos und unbeirrbar ehrlich wie eh und je und fragt über Social Media immer noch seine Fans, ob sie ihm samt Band auf ihrer Tour Schlafplätze im Tausch gegen Tickets anbieten können. Er beweist also, dass er auch nach Jahrzehnten des Musikmachens immer noch auf der Flucht ist, weil Aufhören einfach keine Option ist.
Die eigentümliche Indie-Rock-Folk-Kunst von Songwriter und Comiczeichner Jeffrey Lewis hat 1998 in New York City mit selbstgemachten Kassetten begonnen. Seine wortschwallenden Songs wurden von der Kritik gefeiert und führten dazu, dass Lewis 2001 bei Rough Trade Records unter Vertrag genommen wurde und das Projekt entwickelte sich zu einem Phänomen, das weltweit auf die Bühnen kam. Lewis begleitet viele Songs mit Comics, die er kurz zuvor auf großes Zeichenpapier gebracht hat, zeigt sie synchron zu seinem Gesang dem Publikum und lässt sie dabei Blatt für Blatt fallen. Seine Band fasziniert derweil zwischen imposantem Indie-Rock nach Sonic-Youth-Art und schrammeligem Folk nach Pete-Seeger-Art. Mit seinem neuen Album kommt er auch wieder nach Europa, u. a. am 1. Mai nach Köln.
"The EVEN MORE Freewheelin’ Jeffrey Lewis" von Jeffrey Lewis ist am 21. März auf Vintage Voltage erschienen.
Außerdem
- Schwermütiger Tamino, Teil 3 ("Every Dawn’s a Mountain", Communion Group)
- Der irrwitzige walisische Bluegrass der Taff Rapids aus Cardiff ("Blŵgras", Taff Rapids)
- Das unermüdliche Seelenbeben der Rotterdamer Dawn Brothers ("Cry Alone", Excelsior Recordings)
- Neuheiten von: Jack and the Weatherman, Maxime, Alan Sparhawk, Beirut, Vicky Vaughn, Patrick Watson & Charlotte Cardin, Finn Moriz
Markus Will