Wencke Wollny nennt das dritte Karl-die-Große-Album ein "Black-Mirror-Musical" über Selbstoptimierung, Macht und echte Verbindung - und übersetzt das in konkrete Klangentscheidungen. Mit "Aufgehoben" ist auch die ehemalige Sextett-Konstellation aufgehoben: Wollny hat das Zepter als alleinige Autorin übernommen und eine weibliche Trio-Besetzung eingeführt (Wollny: Gesang, Gitarre, Klavier; Antonia Hausmann: Posaune, Gesang, Bass; Katha Lattke: Drums, Gesang). Es gibt viel Luft im Arrangement, punktgenaue Einsätze, mehrstimmige Refrains, in denen die Posaune nicht dekoriert, sondern zweite Stimme und Konter-Melodie wird. Die Schlagzeugarbeit bleibt trocken und songdienlich; wo elektrische Beats auftauchen, stützen sie den Text.
Und Texte sind das große Pfund von Karl die Große: In "Bau nicht auf mich" schiebt sich ein unscheinbarer Puls nach vorn; jede Zäsur arbeitet dem Leitmotiv "wackliges Gerüst" zu und erzeugt Spannung über Pausen, Atmer, Silbenlängen hinweg - Verwundbarkeit, hörbar gemacht. "Zerquetschte Tomaten" führt das weiter: Kindheitsmetaphern ("enger Bauch wie eine zerquetschte Tomate") treffen auf den Erwachsenen, der "den Keller voll mit Werkzeugen" hat - eingebettet in fein abgestufte Dynamikwechsel, gedämpfte Strophen, die im Refrain weit aufgehen, und Chor-Antworten, die Nähe anbieten. Textverständlichkeit hat Priorität: Stimme vorne, Instrumente um die Worte platziert.
Dass "Aufgehoben" trotz Schwere leicht bleibt, liegt an dieser Ausgewogenheit: Wencke Wolly erzählt statt zu deklamieren. Wollny erlaubt sich Spoken-Word-Momente, dann wieder federnde Pop-Momente - immer folgt die Form dem Inhalt. Gäste erweitern die Farbpalette: Max Prosa vibriert "Vom Sonnendeck", Sebastian Horn von der bayerischen Nicht-Folklore-Band Dreiviertelblut wird zum sonoren Off-Erzähler, anderswo sorgen Chorlagen und kleine Sounddetails (Atem- und Raumgeräusche, Posaunentupfer) dafür, dass aus kleinen Gesten große Szenen werden.
Textlich kreist das Album um Angst und Verletzungen - aber es verharrt nicht: Viele Songs kippen im letzten Drittel vom Verzagen ins Handeln, was sich akustisch mit mehr Luft, mehr Höhen bemerkbar macht. Die Qualität dieser Platte ist ihre Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Schlaglicht und Schatten. "Aufgehoben" meint hier beides - gefunden und beschützt - und wird zur Einladung, die eigene Statik zu prüfen. Das ist Pop mit Tiefe.
"Aufgehoben" von Karl die Große ist erschienen am 29. August auf Backseat.
Außerdem in dieser Sendung
- Zehn Jahre Alter Schlachthof & WeltkulTOUR: ein musikalischer Spaziergang zu sonst unzugänglichen Ecken - mit Broes (das preisgekrönte Folk-Quintett verbindet lateinamerikanische Rhythmen, Balkan- und Afrika-Einflüsse), Ananta Roosens & Mostafa Taleb (furioses Zusammenspiel von Violine und Kamanche), Charlotte Renwa Trio (Chanson-Folk & New Orleans Jazz aus Lüttich) und Médra Jaly (Kora-Griot in sechster Generation) - am Freitag, 5. September in Eupen. Alle Infos beim Veranstalter.
- Zum 80. Geburtstag von Van Morrison: Der Belfast-Cowboy, der sich nur einmal erfinden musste
- Kengo Saito Japanistan Trio: Rubâb, Shakuhachi, Tombak - Brücke zwischen Fernost & Seidenstraße ("Douce Errance", Felmay)
+ Neuheiten von Beharie, Kathryn Williams und Patrick Watson
Maaru Will