Jacques Higelin gehörte zu jener Generation von Künstlern, für die Musik kein Genre war, sondern ein Zustand: offen, experimentell, politisch und zutiefst persönlich. Geboren 1940 am Ostrand von Paris wächst Jacques Higelin in einem Milieu auf, in dem Arbeit und Musik zusammengehören. Sein Vater, Eisenbahner mit Hang zum Jazz, bringt ihm das Zuhören bei – nach Feierabend, zwischen Schallplatten und Geschichten aus einem anderen Leben. Für den jungen Higelin wird die Bühne früh zum Sehnsuchtsort: erst das Kino, dann das Theater, schließlich jene kleinen Pariser Clubs, in denen sich die Bohème der Nachkriegszeit neu erfindet.
Dort begegnet er Henri Crolla, Gitarrist, Freund von Django Reinhardt und eigentlicher Geburtshelfer von Higelins künstlerischer Haltung. Von ihm lernt er, dass Musik kein Betätigungsfeld ist, sondern eine Art zu denken – frei, offen, im Widerspruch. In den Sechzigern schließt er sich Brigitte Fontaine an; gemeinsam interpretieren sie die Texte von Boris Vian, voller Ironie, Traum und Trotz.
Diese Jahre im Untergrund prägen ihn: Higelin entdeckt das Lied als Labor, in dem Sprache, Theater und Protest zusammenfinden. Mit "Crabouif" (1971) und "BBH 75" (1975) löst er das Chanson endgültig aus seiner Form – er verbindet Rock mit Experiment und Philosophie, Improvisation mit Revolte. Seine Konzerte sind Ereignisse – exzessiv, spontan, fast sakral in ihrer Hingabe. Und doch bleibt in seinem Werk stets diese leise, romantische Melancholie, die in späteren Jahren, auch auf seinem erfolgreichsten Album "Tombé du ciel" (1988), eine versöhntere, fast weise Form annimmt.
Jacques Higelin war ein Grenzgänger – zwischen Kunstformen, zwischen Generationen. Er sang von Ausbruch und Zweifel, von Freiheit und Einfachheit, und meinte damit immer beides zugleich: das Leben und die Kunst. "Halte deine Seele offen", heißt es im Chanson "L’innocence", "bewahre dir deinen unschuldigen Blick – denn Einfachheit ist das Kennzeichen der Großen." Der Musiker, der am 8. April 2018 in Paris gestorben ist, hatte den Mut, das Unfertige zu feiern – Generationen nach ihm lebt diese Idee als Einladung fort, die eigene Kreativität zu entfalten – egal was andere davon halten.
Außerdem in dieser Sendung:
- Jacob Collier: Intime Gitarrenstücke aus dem Jugendzimmer ("The Light for Days", Decca)
- Maxime: Fragile Folk-Pop-EP zwischen Coming of Age und Tagtraum ("Als jij het wil", Maxime Music)
- William Prince: Lakonische Folkballaden mit Manitoba-Roots und warm-erdigem Bariton ("Further from the Country", Six Shooter Records)
- Caitlin Canty: Ätherische Americana mit warmen Harmonien ("Night Owl Envies the Mourning Dove", Tone Tree Music)
- Hilary Hawke: Jazzphrasierung trifft Appalachen-Banjo ("Lift Up This Old World", Adhyâropa Records)
- The Barr Brothers: Folk-Hymnen als brüderlicher Dialog ("Let It Hiss", Secret City Records)
- Jack Schneider: Folkminiaturen über Heilung und Neubeginn ("Streets of September", Jeffers Records)