Selbst langjährige Beobachter der Pariser Opernszene können sich nicht an eine solch einmütige Begeisterung an einem Premierenabend erinnern. Ist das internationale Publikum in der französischen Hauptstadt sonst eher höflich reserviert oder gar ein wenig süffisant ablehnend, fand der Applaus beim Premierenabend von "Les indes galantes" kein Ende.
Das hat es nach meinem Wissen bei einer Barockoper noch nie gegeben: Die Schluss-Chaconne wurde von durchgehendem Applaus des Publikums und immer wieder aufflammenden Bravo-Rufen überdeckt, als die Solisten, Tänzer und Choristen an die Rampe treten. Das hatte Rockkonzertfeeling. Und das war absolut angemessen. Denn diese "Indes Galantes" haben, das darf man mit Fug und Recht sagen, Referenzcharakter.
Dabei war dieser Erfolg gar nicht so vorhersehbar. Erst einmal die szenische Umsetzung: "Les Indes Galantes" ist ein Meisterwerk des Barocks, war lange Zeit viel gespielt, dann immer mehr in Vergessenheit geraten. Wie soll man diese sehr lange, einen Prolog und vier Akte umfassende Oper auf die Bühne bringen? Der Pariser Operndirektor Stéphane Lissner sah beim Festival in Cannes vor einigen Jahren einen Kurzfilm des Regisseurs Clément Cogitore zur Musik von "Les Sauvages" aus Rameaus "Indes Galantes". Das war die Initialzündung, dem jungen Künstler seine erste Opernregie anzutragen.
Clément Cogitore nahm die Choreographin Bintou Dembélé mit ins Boot und so sollte es zu einer unerwarteten, auf dem Papier kaum vorstellbaren aber bei der Umsetzung grandiosen und sehr schlüssigen Symbiose von Barockmusik und Streetdance kommen. Gavotte trifft HipHop und das funktioniert auf das Allerbeste, auch dank des Dirigats von Leonardo Garcia Alarcon, und das in der Pariser Bastille-Oper, diesem Riesensaal, der 2.700 Plätze bietet. Vor genau 30 Jahren eröffnet, war der Saal gedacht zur Aufführung des Repertoires des 20. Jahrhunderts, eine neue Spielstätte neben dem altehrwürdigen Paleis Garnier, wo man Rameaus "Les Indes Galantes" wohl eher hätte erwarten können.
Auch für Leonardo Garcia Alarcon war dies vor zehn Jahren noch unvorstellbar. "Die Akustik der Bastille ist bestens für Barockmusik geeignet, man findet die ganze Klarheit, die für die Musik des 20. Jahrhunderts so wichtig ist, auch in der Interpretation der Musik Rameaus auf historischen Instrumenten und einer Interpretation die auf deutliche Artikulation setzt. So erobert Rameau die Bastille. Und so ist es für Alarcon eine große Ehre, den doppelten Geburtstag der Pariser Oper und der Bastille mit seinen Ensembles Cappella Mediterranea und Choeur de Chambre de Namur zu feiern."
Alarcon und Cogitore haben für diese Produktion eng zusammen gearbeitet. Zunächst hat Leonardo Garcia Alarcon vor einigen Jahren, als er in Garnier Cavallis "Eliogabalo" dirigierte, die Akustik der Bastille-Oper getestet. Der Orchestergraben wurde angehoben und so erreicht der Klang selbst eines Barockorchesters, das für "Les Indes Galantes" auf rund 50 Musiker verstärkt wurde, jeden Winkel des Saals. Auch die auf der Bühne gespielten Instrumente klingen hervorragend, ganz zu schweigen vom Gesang. Da passt alles. Cogitore hat für seine szenische Umsetzung gleich an die dem Werk innewohnende Frage des Fremden gedacht. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts war dies der Peruaner, der Türke, der Perser oder die Wilden aus dem fernen Amerika, so sind auch die vier Akte überschrieben.
Damals war der Fremde weit weg, jetzt lebt er bei uns, dazu Leonardo Garcia Alarcon: "Wir müssen uns Fragen stellen über die Migranten, die im Mittelmeer sterben, über den alltäglichen Rassismus der uns in unseren Städten umgibt, unsere mangelnde Solidarität. Regisseur Clément Cogitore stellt uns vor diese direkten Herausforderungen und nutzt zur Vermittlung den Tanz. Die aktuellen Tendenzen des lebendigen Streetdance passen perfekt zu den Tänzen Rameaus."
Tatsächlich ist dies der ganze Zauber dieser Produktion. Cogitore ist so klug und lässt im Prolog und in den beiden ersten Akten nur ganz selten die Tänzer sich ihren freien Bewegungen hingeben. Das ist noch sehr zurückhaltend, um dann mit Breakdance-Einlagen und einer fulminanten Szene im abschließenden Akt die kongeniale Vereinigung zweier auf den ersten Blick so entfernt gelegenen Welten auf die Bühne zu bringen. Das ist modernes Musiktheater, das begeistert und berührt, denn es geht letztendlich um Humanität in dieser Oper und dies war selten so intensiv zu spüren, wie in dieser Umsetzung.
Sabine Devieilhe ist eine phantastische Interpretin in drei der fünf Teile, denn jeder Sänger, jede Sängerin übernimmt gleich mehrere Rollen. Als Hébé im Prolog oder sanft berührende Phani in "Les Incas du Perou" und nicht zuletzt als Zima in "Les Sauvages" trifft sie in jeder Hinsicht den richtigen Ton. Unsere Landsfrau Jodie Devos steht ihr in nichts nach. Die 30jährige Sopranistin meistert wieder einmal fast spielerisch die Klippen aller Koloraturen und dass sie schauspielern kann, hat sie schon oft bewiesen. Jodie Devos hat ihren Platz in der internationalen Opernszene gefunden. Auch die dritte Sopranistin in der Produktion Julie Fuchs überzeugt, sie schwebt sogar als Schmetterling in den Bühnenhimmel. Denn auch das Bühnenbild und die Kostüme sind von einer umwerfenden Phantasie, die immer wieder für Überraschungen sorgt. Bei den Sängern ragt der Tenor Stanislas de Barbeyrac heraus. Alles in allem eine große Ensembleleistung.
Eine wichtige Rolle spielt in "Les Indes Galantes" auch der Chor. Mit der Verpflichtung des Choeur de Chambre de Namur hatte die Pariser Oper ein sehr glückliches Händchen. Der 43 Stimmen umfassende Chor aus Namur bringt die perfekte Musikalität mit, glänzend vorbereitet von Thiebaut Lenaerts und Chefdirigent Leonardo Garcia Alarcon. Die Choristen artikulieren so deutlich, dass man jedes Wort versteht und die Sängerinnen und Sänger lassen sich von den Tänzern förmlich mitreißen, so dass man sich manchmal fragt, wer Chorist und wer HipHoper ist. Das zeigt wieder einmal, dass auch Choristen auf der Opernbühne nicht nur steif rumstehen können.
Mit dieser Produktion von "Les Indes Galantes" wird dem Werk und Rameau Recht getan, denn wie sagt Leonardo Garcia Alarcon Frankreich steht ein wenig in der Schuld Rameaus. "Rameau war das erste französische Operngenie, er hat die Erweiterung der Harmonien eingeführt, er war der erste große Orchestrierer der Geschichte, er hat die Tradition eines Lully revolutioniert, hat italienische Einflüsse eingebracht. Ihn gilt es zu feiern."
Und das ist Leonardo Garcia Alarcon und allen Mitwirkenden gelungen. Bis zum 15. Oktober wird "Les Indes Galantes" in der Opera Bastille gezeigt und die Aufführung vom 10. Oktober wird live von Arte Concert übertragen.
Air des Sauvages aus „Les Indes Galantes“
(J.P.Rameau)
Orchestre de la Chapelle Royale
Ltg. Philippe Herreweghe
HMC
Scène finale des Incas aus „Les Indes Galantes“
(J.P.Rameau)
Sabine Devieilhe, Sopran
Samuel Boden, Tenor
Aimery Lefèvre, Bartion
Les Ambassadeurs
Ltg. Alexis Kossenko
WARNER CLASSICS
Vaste empire des mers aus „Les Indes Galantes“
(J.P.Rameau)
Sabine Devieilhe, Sopran
Le Jeune Choeur de Paris
Les Ambassadeurs
Ltg. Alexis Kossenko
WARNER CLASSICS
Viens, Hymen aus „Les Indes Galantes“
(J.P.Rameau)
Sabine Devieilhe, Sopran
Les Ambassadeurs
Ltg. Alexis Kossenko
WARNER CLASSICS
Les Sauvages: Forêts paisibles aus „Les Indes Galantes“
(J.P.Rameau)
Sabine Devieilhe, Sopran
Aimery Lefèvre, Bartion
Le Jeune Choeur de Paris
Les Ambassadeurs
Ltg. Alexis Kossenko
WARNER CLASSICS
Chaconne aus „Les Indes Galantes“
(J.P.Rameau)
Sabine Devieilhe, Sopran
Les Ambassadeurs
Ltg. Alexis Kossenko
WARNER CLASSICS
Régnes, plaisirs et jeux aus „Les Indes Galantes“
(J.P.Rameau)
Sabine Devieilhe, Sopran
Les Ambassadeurs
Ltg. Alexis Kossenko
WARNER CLASSICS
„Non san … Non vo‘ quel vecchio“ aus „Un giorno di regno“
(G.Verdi)
Jessye Norman, Sopran
Royal Philharmonic Orchestra
Ltg. Lamberto Gardelli
PHILIPS
He‘s got the whole world in his hands
(Trad.)
Jessye Norman, Sopran
Geoffrey Parsons, Klavier
PHILIPS
Villanelle aus „Les nuits d‘été“
(H.Berlioz)
Jessye Norman, Sopran
London Symphony Orchestra
Ltg. Sir Colin Davis
PHILIPS
L‘île inconnue aus „Les nuits d‘été“
(H.Berlioz)
Jessye Norman, Sopran
London Symphony Orchestra
Ltg. Sir Colin Davis
PHILIPS
Hans Reul