Stromae war seit 2015 alles andere als untätig: Allein im Modebereich hat er in den letzten Jahren fünf Kollektionen auf den Weg gebracht. Dazu hat er unter dem Banner seines Labels Mosaert an etlichen Videoproduktionen mitgearbeitet – u.a. für Yael Naïm („Coward“), Dua Lipa („IDGAF“) und Billie Eilish („Hostage“). Besagte Label-Plattform hatte er schon 2009 zusammen mit seinem Bruder Luc Van Haver und der Stylistin Coralie Barbier ins Leben gerufen, um seine Kreativität in verschiedenen Bereichen auszuleben – zum Teil eben auch eher hinter den Kulissen. Als er im Jahr 2018 dann sein eigenes Studio in Brüssel fertig eingerichtet hatte, machte er’s ganz ähnlich wie ein Handwerker, der in seine Werkstatt zurückkehrt, um sich dort wieder seinem Kernhandwerk zu widmen… es war der Startschuss für sein drittes Album Multitude.
Man muss sich gar nicht mal sonderlich intensiv mit konkreten Leidensbeschreibungen auseinandersetzen, um zu erkennen, wie viel kreatives Potenzial in Rück- und Schicksalsschlägen liegt. Multitude erscheint nach einer Phase, in der Stromae gewissermaßen von seinem Körper ausgebremst worden war: Er konnte so nicht weiter machen, musste sich zwischenzeitlich von der Bühne verabschieden. Es war quasi eine Zwangsbeurlaubung, was auch sein Positives hatte: Er kam endlich mal zur Ruhe, führte ein weniger hektisches Leben mit mehr Struktur, mehr Familienanbindung – schließlich auch mit neuer Lust auf die nächste Arbeitsphase. Auch fand er neue Inspirationen. Vor allem nutzte er die Erfahrung dieser schwierigen Zeit und machte die damit verbundenen Emotionen zum Kern seiner neuesten Songs. Anstatt jedoch auf pure Nabelschau oder Selbstmitleid zu setzen, nutzte Stromae die Lektionen dieser Zeit, um sich noch mehr mit anderen Menschen zu identifizieren: Er versetzte sich in andere hinein, an deren Leben er Anteil hatte – weil er nachfühlen konnte, wie es ihnen ging, weil sein Mitgefühl ein Ventil brauchte. Die labilen Männerfiguren von „La Solassitude“ und „Mon Amour“, der Sohn einer Prostituierten („Fils de Joie“), die depressiv-suizidalen Protagonisten von „Mauvaise Journée“ und „L’Enfer“, das kein bisschen füreinander geschaffene Paar von „Pas Vraiment“, schließlich die vielen Unsichtbaren aus „Santé“ oder die leidenden Frauen von „Déclaration“: Stromae umarmt sie alle, sieht sie alle, porträtiert sie alle in seinen neuen Songs, zeigt dabei immer wieder sein Mitgefühl und seine Nächstenliebe. So bekommt auch der Albumtitel Multitude eine sehr viel tiefere Bedeutung. Es geht um ein kollektives Gefühl, das schon der US-amerikanische Romantiker Walt Whitman besang. Tatsächlich würden die ersten Zeilen seines Klassikers auch zu Stromaes Panoramablick passen: „I am large, I contain multitudes, I am of every hue and caste, of every rank and religion.“
Aufgewachsen mit einem Vater aus Ruanda, den er jedoch kaum zu Gesicht bekam, und einer flämischen Mutter, die den sechsköpfigen Haushalt alleine schmeißen musste, kam Stromae 1985 als Paul Van Haver in Brüssel zur Welt. Sein Verhältnis zu sich und anderen war schon immer besonders: ein chaotisches Gefühl, wie zweigeteilt, zum Teil einfach nur verschwommen. So brauchte er schon früh die Musik, um dieses Gefühl irgendwie zu kanalisieren und zu beruhigen. Als Alchemist, der am liebsten Gegensätzliches verbindet, landete er schon bald bei seiner eigenen Formel: Rap, Afrobeat und französische Texte – und zwar so kombiniert, dass weder die Traditionen des einen Genres verletzt, noch die tanzbaren Aspekte des anderen ausgeklammert werden… ja, und was dann kam, das weiß man natürlich: Seine Alben Cheese (2010) und Racine Carrée (2013), auf denen auch die großen Singles „Alors On Danse“, „Papaoutai“ und „Formidable“ versammelt waren, übertrafen alle Erwartungen, überrollten die Charts, sorgten für ausverkaufte Hallen und viel Bewegung auf den Tanzflächen. Vier Millionen Alben sollte er verkaufen – 3,5 Millionen davon physisch. Auch zahlreiche Awards bekam Stromae, unter anderem vier Victoires de la Musique, vier NRJ Awards und einen MTV Award. Dass er den New Yorker Madison Square Garden füllen sollte, unterstreicht seine internationale Reichweite. Was auch für die Zahl der kombinierten Streams gilt: 6,5 Milliarden. Eine gewaltige Zahl, beinahe so groß wie die Zahl der Individuen, die unseren Planeten bevölkern. Eine große Multitude – Vielzahl, Menge –, hinter der sich eine andere Vielzahl verbirgt…
Zu seinen liebsten Kindheitserinnerungen zählen die Familientrips in entlegene Länder: nach Mali, nach Peru, Bolivien, Argentinien. Seine Mutter zog es immer wieder in die Fremde: Sie wollte andere Realitäten kennenlernen – und hatte auch kein Problem damit, ihre Kinder auf die wildesten Backpacking-Abenteuer mitzuschleppen, auch wenn sie sich dabei deutlich abseits der touristischen Pfade bewegte. Stromaes Hang zu Klängen und Instrumenten, die er auf derartigen Reisen kennengelernt haben könnte, war schon immer Teil seiner Musik – man denke an das Cavaquinho in „Avé Cesaria“. Auf Multitude spielen diese ungewöhnlichen Instrumente nun eine zentrale Rolle: Eine chinesische Erhu (zweisaitige Laute) – auf „La Solassitude“ –, die persische Ney-Flöte („Pas Vraiment“), das Charango aus der Andenregion („Mauvaise Journée“) oder auch eine venezolanische Tres („Mon Amour“). Eingespielt übrigens zum größten Teil von Musiker:innen aus der jeweiligen Region, was dem Vorwurf kultureller Aneignung schon mal den Wind aus den Segeln nehmen dürfte. Auf seiner aktuellen Playlist finden sich Obertongesänge aus der Mongolei, Cumbia aus Kolumbien und traditionelle Klänge aus der Saharazone – was zeigt, dass seine Liebe zu „Exotischem“ mehr ist als eine Phase oder ein oberflächlicher Flirt. Es geht ihm auch nicht darum, sich eine Tracht aus anderen Ländern überzustülpen. Es ist vielmehr eine Übung in der subtilen Kunst, auf andere (Menschen, Kulturen) zuzugehen. Multitude ist Stromaes Versuch, die Welt weiter zu erforschen – ohne dabei seine Wurzeln aus dem Blick zu verlieren.
Nachdem er 15 Jahre lang derselben Software die Treue gehalten hatte, verpasste der erstmals seit Racine Carrée wieder aktive Beatmaker seiner Werkzeugkiste ein Update – und setzt dafür auf südamerikanische Einflüsse. Für die erste Single „Santé“, aber auch für „C’est Que du Bonheur“ und „La Solassitude“ bricht er alte Muster auf, lässt allzu Vertrautes außen vor und vermenschlicht die Sprache der Maschine, um bei „Fils de Joie“ sogar mit einem Streichquartett und einem Cembalo zu arbeiten. Es ist wieder diese ihm eigene Alchemie der Gegensätze: Sein Ansatz basiert auf dem Wunsch, das menschliche Dasein in all seiner Vielfalt zu beschreiben, vollkommen wertfrei und unvoreingenommen. Er basiert auf dem Wunsch, das Leben anderer – oder auch das eigene (siehe „C’est Que du Bonheur“ zum Thema Vaterschaft, „Invaincu“ zum Thema Heilung) – zu durchdringen, weshalb dieses Album insgesamt als Fenster zur Welt funktioniert: Man blickt hindurch und sieht die Menschen, findet einen seltenen Moment der Gemeinschaft und der Freude… einen Moment, den es zu teilen lohnt.
UMI/ Polydor